Nadja Heppner

Das Muttermonster

 

Paul war ein 10-jähriger, durchschnittlich begabter Grundschüler. Eines Morgens wachte er schweißgebadet in seinem Holzbett auf. Die Sonne strahlte durch die dünnen Polyester-Vorhänge auf Pauls nasses Gesicht. Seine Haut glänzte vom Schweiß. Er fühlte sich, als wenn sein Brustkorb jeden Moment auseinander springen würde, so stark pochte sein Herz. Der Junge hatte einen gruseligen Albtraum gehabt, in dem seine Eltern grässliche Monster wurden und ihn mit Haut und Haaren auffressen wollten. Noch in seinen grässlichen Gedanken gefangen, knallte plötzlich die Tür mit einem kalten Windzug auf. Seine Mutter stand vor Paul und sagte mit immer tiefer werdender Stimme: „Schatz, komm, du musst zur Schule!“

Dann riss Pauls Mutter sich ihre Haut vom Körper und statt ihrer stand ein zähnefletschendes, großes, pickliges, behaartes, grün-graues Ungeheuer direkt vor Paul. Das Blut spritzte an die schneeweißen Wände und rann langsam hinunter zu Boden. Eine riesige, blutrote Pfütze sammelte sich unter dem Muttermonster. Schwer floss es in den Ritzen des gebohnerten Parketts entlang und befleckte den gepunkteten Teppich, der das Blut wie ein Schwamm aufsog. Paul versuchte mit dem letzten Rest Energie zu schreien, doch seine Kehle war staubtrocken und er brachte nur ein klägliches Piepsen hervor. Plötzlich klingelte wie aus dem Nichts sein kleiner, handbemalter Wecker. Von diesem Geräusch geweckt, schreckte er hoch.

Es wurde still in Pauls Zimmer. Das Muttermonster war verschwunden, jedoch Pauls Herz pochte noch immer heftig. Die strahlende Morgensonne zauberte ein zaghaftes, aber zugleich glückliches und erleichtertes Lächeln auf Pauls Gesicht, denn er bemerkte, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.

Im Vorgarten glitzerte das von vielen Tautropfen benetzte Gras. Das Zwitschern der Vögel drang sanft ins Zimmer. Frisch duftete die klare Morgenluft. Paul nahm beherzt einen tiefen Atemzug und murmelte entschlossen: „ Nie wieder werde ich mir vor dem Zu-Bett-Gehen einen gruseligen Film anschauen.“